Artikel erschienen im Magazin "Visionen" Mai 2014 von Regina Bönsel, download des Originals hier
Liebe ist kein Gefühl,
Liebe ist deine wahre Existenz,
sie ist das, was du bist
(Sri Sri Ravi Shankar)
Die vielen Gesichter der Liebe
Nur die Liebe vermag uns die Größe zu geben, mit der wir uns selbst und andere aus den Verstrickungen des Lebens herauslösen können. Doch braucht sie Zeit und bewusste Pflege, damit sie sich zur Blüte entwickeln kann.
In Zeiten, in denen sich Strukturen für das Gelingen eines glücklichen Lebens auflösen, kommt einer zeitüberdauernden Ausrichtung an spirituellen Werten immer mehr Bedeutung zu. Immer schneller scheint sich das Rad der Zeit zu drehen und immer weniger Zeit bleibt für den Einzelnen, um das Leben in seiner Vielfalt und Schönheit zu wertschätzen und zu genießen.
Der moderne Lebensstil ist fixiert auf ein perfektes Äußeres, wo bleibt da die Zeit für die echten, die wahren Gefühle? Das Internet – die virtuelle Welt mit ihren sozialen Netzwerken – baut in uns eine Scheinwelt auf, kreiert schier unermessliche Wünsche und Bedürfnisse, sodass manch einer schon mal den Überblick und den Bezug zum richtigen Leben verlieren und ganz vergessen kann, dass die erste und wichtigste Erfahrung in unserem Leben die Liebe ist. Liebe ist sowohl am Anfang des Lebens als auch an dessen Ende das erste, wonach sich ein jeder von uns sehnt. Macht, Geld und Sex sind „nur“ Zwischenstationen. Denn hinter jeder Handlung verbirgt sich die treibende Kraft der Liebe.
Wir brauchen einen Kompass für die Liebe, damit wir die Entwicklungsstufen erkennen und verstehen; vereinfacht können wir uns auf drei Entwicklungsstufen der Liebe verständigen:
• die Liebe, die aus Charme oder Anziehung heraus entsteht
• die Liebe, die aus Vertrautheit entsteht, und
• die Liebe zum Göttlichen.
Die Macht der Liebe
Das Kraftvollste auf der Welt ist die Liebe – nur durch die Liebe können wir die Herzen der Menschen gewinnen. Im „Hohelied der Liebe“ heißt es:
„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich all meine Habe den Armen gäbe und meinen Leib hingäbe, um Ruhm zu gewinnen, und hätte die Liebe nicht, so wär’s mir nichts nütze.“ (1 Kor. 13,1-3) Dieser Brief von Paulus an die Korinther hat mit seiner zeitlosen Botschaft von der großen Kraft der Liebe nichts eingebüßt. Nur die Rahmenbedingungen sind verschieden. Die Liebe, von der Paulus hier spricht, ist tiefgründig und sinnstiftend, sie bringt den aufrichtigen Sucher mit seinem Wesenskern in Berührung.
Die partnerschaftliche Liebe
Die partnerschaftliche Liebe ist das größte Experiment unseres Lebens. Anziehung und Charme sind der Beginn einer erotischen Liebe, aber sie sind nicht von langer Dauer. Sobald du mit deinem Partner, deiner Partnerin vertraut geworden bist, ist die Anziehung schnell verloren. Die meisten Menschen fühlen sich dann verunsichert und glauben, dass ihre Liebe erloschen sei, dabei passiert genau das Gegenteil. Anziehung ist der erste Schritt in der partnerschaftlichen Liebe, Vertrautheit ist der zweite Schritt. Damit unsere Liebe reifen kann, müssen wir ihr mit Geduld und Großzügigkeit begegnen und ihr Raum zur Entfaltung geben. Ricarda Huch bemerkte hierzu: „Das Einzige, was wächst, wenn wir es verschwenden, ist die Liebe.“
Das ist leichter gesagt als getan, denn was für einen Verliebten in der Ernüchterungsphase am schwierigsten zu ertragen ist, ist das Verflüchtigen seiner Schmetterlingsgefühle. Das Festhalten an etwas, was von Natur aus vorübergehend ist, scheint hier unser Problem zu sein. Es gibt der Ratgeber unzählige, die uns Tricks und Kniffs verraten, aber gelingen kann unser Experiment nur, wenn wir uns auf die natürliche Entwicklung einer nach ihrem Ursprung strebenden Liebe einlassen, denn das natürliche Bestreben der Liebe ist es, dass sie dem Getrenntsein entfliehen und zurück zur Einheit, zum Ursprung allen Lebens will.
„Liebe ist kein Gefühl, Liebe ist deine wahre Existenz, sie ist das, was du bist“, sagt der Weisheitslehrer Gurudev Sri Sri Ravi Shankar und lädt uns dazu ein, tiefer in das Mysterium der Liebe einzusteigen.
Liebe beginnt in unserem Herzen, sie ist Teil unseres Wesens. Wenn die Liebe sich in uns nicht entfalten kann, dann spielt sich nur eine Vorstellung davon in unserem Kopf ab – und das ist unser eigentliches Problem. Wenn wir das Experiment wagen, uns auf die Liebe einzulassen, uns ihr hinzugeben, dann bringt sie uns in die Vertrautheit, den zweiten wichtigen Entwicklungsschritt der Liebe. Ohne Vertrautheit stirbt unsere Liebe sehr jung, sie kann nicht reifen. Wir wechseln die Partner, aber das Problem bleibt bestehen.
Die Liebe am Leben erhalten
Der Anfang der Abwärtsspirale liegt in der Frustration. Das Fordern nach Liebe raubt uns unsere natürliche Schönheit und abgrundtiefe Gefühle wie Eifersucht und Hass tun sich auf. Sie sind verzerrte Formen der Liebe. Die Liebe bringt positive Schwingungen hervor, wenn sie sich ihrem Ursprung nähert und sich eins mit der Schöpfung fühlt, so wie der Tropfen sich im Ozean auflöst und das Getrenntsein überwunden hat. Liebe, die aus lauter Nein besteht, ist hässlich.
Genau im Augenblick der Frustration und der Enttäuschung, dem „Ende der Täuschung“, müssen wir in diese unheilvolle Entwicklung eingreifen. Denn wenn es uns gelingt, aus dem reaktiven Gefühl auszusteigen, verlassen wir die Projektionsfläche und können bei uns selbst einsteigen. Der Weg nach innen ist der heilsame Weg der Liebe. Unser Sein in einem friedvollen, meditativen und andächtigen Zustand zu halten, trägt dazu bei, dass die Liebe sich entfaltet. Unterschätzen Sie diese in Ihnen liegende Kraft nicht!
Um Menschen verzeihen zu können, braucht es eine große Portion Liebe. Es führt kein Weg an dieser Einsicht vorbei, nur die Liebe vermag uns die Größe zu geben, mit der wir uns selbst und andere aus den Verstrickungen des Lebens herauslösen können. Wie Paulus weiter schreibt: „Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbitten, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit, sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“ (1. Korinther 13,4-7)
Die ganze Schöpfung umgibt uns mit Liebe – öffnen Sie Ihren Blick für diese Erkenntnis und fühlen Sie die Einzigartigkeit und die Kostbarkeit Ihres Lebens. Liebe liegt im Geben und nicht im Nehmen. Anstatt zu warten, dass jemand auf Sie zukommt, werden Sie selbst aktiv. Liebe kalkuliert nicht, sie kennt keine Zahlen – Liebe will verschmelzen, will teilen. Liebe ist Leben.
Eltern- oder Mutterliebe
Wenn ein Kind geboren wird, dann treten die Bedürfnisse der Eltern ganz selbstverständlich in den Hintergrund. Die Eltern lernen eine wichtige Lektion in bedingungsloser Liebe – ihre Fürsorge, Zuwendung und Hingabe an das Neugeborene lassen sie in ihrer Liebesfähigkeit reifen. Instinktiv wissen Eltern, dass ihr Kind ohne ihre liebevolle Zuwendung nicht einen Augenblick überleben würde. Damit nähren sie nicht nur den Lebenswillen des Kindes, sondern stärken auch sein Ur- bzw. Selbstvertrauen und legen zudem noch den Grundstock für eine gute Bindung.
Emotionale Zuwendung in den ersten Lebensmonaten und Jahren ist entscheidend für die Entwicklung des Kindes. Hier wird der Grundstein für ein glückliches Leben gelegt – ob wir mit Zuversicht, Hoffnung und Urvertrauen durchs Leben gehen, oder ob wir hadern und zaudern. Liebe macht gesund, fördert die soziale Ader in uns, macht stressresistent und schlau, so die Diplom-Pädagogin und Kinder- und Jugendpsychologin Gabriele Pohl.
Wenn Liebe glüht, ist sie Glückseligkeit.
Wenn Liebe fließt, ist sie Mitgefühl.
Wenn Liebe explodiert, ist sie Zorn.
Wenn Liebe gärt, ist sie Eifersucht, Gier und Neid.
Wenn sie aus lauter „Nein“ besteht, ist sie Hass.
Wenn Liebe reift, wird sie zur Hingabe.
Wenn Liebe handelt, ist sie Vollkommenheit.
(Gurudev Sri Sri Ravi Shankar)
Freundschaft – die Liebe unter Gleichgesinnten
Freundschaft ist das zarte Band der Liebe, das uns mit allen Lebewesen verbindet, nicht nur mit Menschen, sondern mit allem Lebendigen, wie z. B. den Pflanzen und den Tieren. Die freundschaftliche Liebe fördert unser soziales Verhalten und beschenkt uns mit dem Gefühl der Zusammengehörigkeit, denn es ist zuerst der Freund, für den wir uns einsetzen oder stark machen. „Von allen Geschenken, die uns das Schicksal gewährt, gibt es kein größeres Gut als die Freundschaft – keinen größeren Reichtum, keine größere Freude“, so Epikur von Samos.
In der Freundschaft erfahren wir die wechselseitige Wirkung von Schutz gewähren und beschützt werden. Ein Freund ist jemand, der alles von Ihnen weiß und Sie trotzdem liebt. Wenn wir kein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln, baut sich eine Wand zwischen uns und den anderen auf.
Diese Erfahrung ist weitreichend, sie legt den Grundstein für ein gutes Miteinander und entscheidet darüber, ob ich Menschen offen begegne und ihnen vertrauen kann und mich in der Gemeinschaft zuhause fühle oder nicht. In einer freundlichen Atmosphäre entspannt sich der Geist, wir können leicht lernen und besser verstehen, und wir entwickeln ein aufrichtiges Interesse für andere Menschen und engagieren uns für das Leben. Mitgefühl, Empathie und Fürsorge – die feinen Aspekte der Liebe – gepaart mit Verantwortungsgefühl reifen in uns und erzeugen ganz natürlich das Gefühl der Verbundenheit. Freundschaft lässt uns über unsere eigenen Begrenzungen hinauswachsen und fördert das Teambewusstsein – eine wichtige Charaktereigenschaft, die nicht selten über Erfolg oder Misserfolg im Berufsleben entscheidet. Die Geschäftswelt und die Liebe sind von Natur aus gegensätzlich. Im Geschäftsleben gibt man weniger und nimmt mehr; in der Liebe gibt man mehr und nimmt weniger. Und dennoch schließt die Geschäftswelt Liebe nicht aus, da die Liebe die treibende Kraft für den Fortschritt ist. Man kann Liebe auch soziale Verantwortung nennen. Die Liebe zum Göttlichen, Nächstenliebe in Form der Fürsorge, Barmherzigkeit und Empathie und die Liebe zum Selbst – all das sind verschiedene Aspekte derselben Wahrheit.
Jemanden zu lieben,den du magst, ist unbedeutend.
Jemanden zu lieben, weil er dich liebt, ist unwichtig.
Jemanden zu lieben, den du nicht magst,
bedeutet, dass du eine Lektion im Leben gelernt hast.
Jemanden zu lieben, der dich grundlos beschuldigt,
zeigt, dass du die Kunst des Lebens gelernt hast.
(Gurudev Sri Sri Ravi Shankar)
Die Beziehung zum Göttlichen
„Meditation ist Gott in sich selbst sehen. Liebe ist Gott im Nächsten sehen. Wissen ist Gott überall sehen. Liebe zeigt sich in selbstlosem Dienen. Freude zeigt sich in einem Lächeln von tief innen heraus. Friede zeigt sich in der Meditation. Gott zeigt sich in bewussten Handlungen.“ (Gurudev Sri Sri Ravi Shankar)
Wenn wir wissen, dass Gott in uns wohnt, werden wir es nicht eilig haben, etwas von Gott zu erlangen. Wenn wir unendliche Geduld haben, erkennen wir, dass Gott zu uns gehört. Das ist nicht eilig in einem Supermarkt einzukaufen und dann schnell nach Hause fahren. Wenn wir sehen, dass alle Vorräte schon bei uns zu Hause sind, müssen wir nicht hektisch einkaufen gehen, dann haben wir es bequem.
Warum meinen wir, dass es Gott nur einmal gibt? Wie könnte dieses Bewusstsein, das die ganze Schöpfung entstehen ließ und das die Vielfalt liebt, einförmig sein? Gott liebt Vielfalt, also muss er selbst von unendlicher Vielfalt sein. Gott manifestiert sich in vielen verschiedenen Namen, Gestalten und Erscheinungsformen.
Glaube ist eine Sache des Kopfes, Hingabe ist eine Sache des Herzens; Meditation verbindet beide miteinander. So heißt es zum Schluss von Paulus‘ Hohelied der Liebe (1. Kor 13,8-13): „Die Liebe hört niemals auf, während doch das prophetische Reden, das Zungenreden und die Erkenntnis aufhören werden. Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Prophezeien ist Stückwerk. Wenn aber das Vollendete kommt, so wird das Stückwerk aufhören… Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die Größte unter ihnen.“
Regina Bönsel
Regina Bönsel, Jg. 1960, ist eine der ersten deutschen Schülerinnen von Gurudev Sri Sri Ravi Shankar und Gründungsmitglied von „Die Kunst des Lebens Deutschland e.V.“. Ausbildung zur Yoga- und Meditationslehrerin. Seit 1994 ist sie in Europa und seit 2008 auch in Russland für die Ausbildung der Seminarleiter verantwortlich. Autorin von „Atempause – jetzt!“ (J. Kamphausen Verlag).
Weitere Info: www.srisriravishankar.org | www.atempause-jetzt.de